Sammeln und auswählen, ordnen und deuten.
Geschichte(n) schreibende Handwerker und ihre Chroniken im 15. und 16. Jahrhundert
In meiner Habilitationsschrift untersuche ich städtische Chroniken aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die von Handwerkern geschrieben wurden. Das Habilitationsverfahren wurde im Wintersemester 2021/22 erfolgreich abgeschlossen. Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Chroniken neun verschiedener Chronisten aus sechs unterschiedlichen Städten des deutschsprachigen Gebiets (Basel, Dortmund, Esslingen, Nürnberg, Olomouc und Ulm). Die Chronikmanuskripte werden als Artefakte städtischer Kultur und als Textträger verstanden und sowohl auf ihre Materialität als auch auf ihren Inhalt hin untersucht. So verschränke ich eine (literatur-)historische Untersuchung der Texte mit einer kodikologischen Untersuchungen der Manuskripte. Zudem erforsche ich historisch vergleichend die Chronisten.
Am Beispiel von Geschichte(n) schreibenden Handwerkern wird gezeigt, wie Geschichtsschreibung in der Stadt an der Schwelle zur Frühen Neuzeit funktionierte. Ich untersuche, welche Informationen in den Manuskripten wie gesammelt, ausgewählt, geordnet und gedeutet wurden. Darüber hinaus kläre ich, welche Kompetenzen und Fähigkeiten ein Schreiber im 15. und 16. Jahrhundert mitbringen musste, um Produzent einer Chronik werden und so an den kulturellen Praktiken seiner Zeit teilnehmen zu können. Außerdem untersuche ich, welche Eigenschaften eine Chronik besitzen musste und leiste damit einen wichtigen Beitrag zu Fragen der Gattungskonventionen. Nicht zuletzt hat die Analyse gezeigt, dass die Manuskripte für aktuelle Forschungsfragen stets mituntersucht werden müssen.
Ich konnte zeigen, dass elaborierte Schriftlichkeit weit in die soziale Gruppe der Handwerker im 15. und 16. Jahrhundert vorgedrungen war, sodass Vertreter dieser Gruppe in der Lage waren, komplexe Texte in der Volkssprache zu formulieren. Sie konnten sich damit am historiographischen Diskurs ihrer Zeit beteiligen. Schreibende Handwerker rezipierten ganz verschiedene Schriften, um daraus ihre eigenen Chroniken zu fertigen, darunter sind (gedruckte) Welt- und Stadtchroniken, städtische Dokumente, religiöse Traktate und Flugschriften. Sie integrierten aber auch Hörensagen in ihre Texte. Die innerstädtischen Konflikte, die den Untersuchungszeitraum prägten, verarbeiteten die Handwerker in ihren Chroniken, sie rechtfertigten ihr eigenes Handeln oder das Handeln ihrer sozialen Gruppe. Außerdem positionierten sie sich innerhalb der Konfliktparteien, wobei die untersuchten Handwerker nicht immer auf der Seite des Stadtrats bzw. Stadtherren standen. Damit konnte ich konkurrierende Meinungen innerhalb der Konfliktfelder herausarbeiten.
Ein weiteres zentrales Ergebnis der Arbeit ist eine Binnengliederung der Gattung ‚städtische Chronistik‘ in städtische Weltchronistik, chronikalische Rechtfertigungsschriften und familiäre Stadtchroniken. Chroniken stellen dabei insgesamt eine spezifische Form der Wissensorganisation dar. Die Datierung von Informationen ist konstituierendes Element der Gattung. Die grundsätzlich offene Form bringt eine enorme Flexibilität mit sich, die von Handwerkern genutzt wurde, um ihre spezifischen Anliegen in den Texten zu formulieren.
Veröffentlichungen:
Auswählen, sammeln, ordnen und deuten. Geschichte(n) schreibende Handwerker und ihre Chroniken im 15. und 16. Jahrhundert, Habilitationsschrift 2021(Städteforschung A) [in Druckvorbereitung]
Einmütigkeit in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt? Augsburger Chronisten berichten über die Schilling-Unruhen von 1524, in: Thomas Jeschke und Andreas Speer (Hgg.): Consensus, Berlin / Boston 2024 (Miscellanea Mediaevalia 43), S. 162–180.
Die Stimme aus dem Off. Oppositionelle Handwerker beschreiben ihre Stadt, in: Klaus Kipf und Jörg Schwarz (Hgg.): Stadtgeschichten. Stadt und Kultur in Mittelalter und Früher Neuzeit (600–1600) (Das Mittelalter. Beihefte 21), Heidelberg 2024, S. 245–266.
Stams – ein typisches Zisterzienserkloster? Konventionalisierte Handlungsmuster bei Klostergründungen des Zisterzienserordens im 13. Jahrhundert, in: Julia Hörmann-Thurn und Taxis, Tobias Pamer und Jörg Schwarz (Hgg.): Anfang und Werden – Stift Stams im Mittelalter: Vorträge der wissenschaftlichen Tagung anlässlich des 750-Jahr-Jubiläums des Zisterzienserstiftes Stams 1273–2023, Innsbruck 2023 (Schlern-Schriften 376), S. 37–55.
Die Darstellung genealogischen Wissens in von Handwerker:innen geschriebenen Chroniken des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Cusa, Giuseppe und Thomas Dorfner (Hgg.): Genealogisches Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit Konstruktion – Darstellung – Rezeption 2023 (Cultures and Practices of Knowledge in History 16), S. 61–86.
Transmission of Useful Knowledge in Texts Written by Craftsmen. Two Case Studies from the Holy Roman Empire, in: Giampiero Nigro (Hg.): L’economia della conoscenza. Innovazione, produttività e crescita economica, secc. XIII-XVIII/The Knowledge Economy. Innovation, Productivity and Economic Growth, 13th to 18th Century” (Datini Studies in Economic History 3), Firenze 2023, S. 259–283.
Geschichte schreibende Handwerker in Konkurrenz um städtische Ämter, in: Franziska Neumann, Jorun Poettering und Hillard von Thiessen (Hgg.): Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit: Aufeinandertreffen – Übereinstimmung – Rivalität (Frühneuzeit-Impulse 5), Köln/ Wien 2023, S. 635–645.
Die Ware Bergkristall. Ressourcen und Routen – Handwerk und Handel, in: Manuela Beer (Hg.): Magie Bergkristall, Köln 2022, S. 63–69.
Rock Crystal as Commodity. Sources and Routes – Craft and Trade, in: Manuela Beer (Hg.): Magic Rock Crystal, Köln, 2022, S. 63–69.
[in Zusammenarbeit mit Tanja Skambraks und Ulla Kypta]: Introduction, in: Dies. (Hgg.): Markets and their Actors in the Late Middle Ages, De Gruyter: Berlin [u.a.] 2020, S. 1–5.
aber es haben fil leÿtt drin glesen, das es sich schier will anfahen zerreÿssen, dan es ist nitt einbu͑nden gwesen. Zur Materialität städtischer Chroniken des 16. Jahrhunderts, in: Sabine von Heusinger und Susanne Wittekind (Hgg.): Die Materielle Kultur der Stadt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschungen, Reihe: A Darstellung 100), Wien/ Köln/ Weimar 2019, S. 137–160.
Sammeln und Ordnen von Wissen in der städtischen Chronistik des 16. Jahrhunderts. Die chronikalischen Aufzeichnungen des Ulmer Handwerksmeisters Sebastian Fischer, in: Pešek, Jiří und Olga Fejtová (Hgg.): Stadt und Geschichtsschreibung: Geschichtsschreibung über Städte und Geschichtsschreibung in Städten (Documenta Pragensia 37), Prag 2019, S. 351–367.